Flucht

Das Meer knitterte in aller Seelenruhe sein Kleid. Schaumkronen krabbelten einigen fetten Raupen nicht unähnlich auf den Strand zu – immer das Ziel einer Metamorphose vor Augen. Des Meeres stürmischer Atem drückte seine Arme auf den Strand, als ob es sich dort auf ewig festkrallen wollte. Schon wenige Augenblicke später war alle Kraft versiegt und seine dünner werdenden Finger rutschten ohne jeden Halt wieder den Sand zurück in seine Ärmel. Als wäre nichts geschehen, lag der Strand einen Augenblick lang absolut ruhig da – das vornehme Tier rollte längst den alten Weg den Strand hinauf. Die Sonne kletterte ungerührt ihren Weg über den Himmel, blinzelte hie und da, aber Zeit zum Verschnaufen blieb ihr nicht.

Offensichtlich hatte das Meer etwas länger ausgeharrt, mehr Kraft gesammelt als vorher – im jetzt folgenden Anlauf rollte es verunsichert über die eigene Kraft brummend den Strand hinan und bedeckte die Schuhe des dort schon seit einer Weile dumpf sinnenden, in eine schwarze Lederjacke gekrallten Mannes mit einer Ladung Wasser und Kies. Sehr langsam kam Leben in die bis dahin völlig reglos dastehende Gestalt. Der linke Fuß wühlte sich aus der langsam trocknenden Kiesschicht, drückte dabei das an ihm hängende Bein im Knie etwas durch. Der feine Stoff des Hosenbeines hatte sich bis zu einer gut sichtbaren Linie mit Wasser vollgesogen.

Die Augen geschlossen, das Gesicht verzogen, als wollte er eine Erinnerung verjagen. Eine sehr alte Erinnerung, um genau zu sein. Das tiefe Atmen tat ihm gut. Aber das Bild verschwand nicht.

Um die halbe Welt war er geflohen – aber was er auch anstellte, sein Verfolger holte ihn jedesmal mühelos ein. Der Gedanke fraß schon wieder an ihm. Diese Erinnerung hatte er loswerden wollen. Aber das mit dem Verdrängen haute einfach nicht hin. In seiner Verzweiflung hatte er damals einfach alles zum Feuerlöschen benutzen wollen, was ihm in die Finger gefallen war; Öl war wohl auch dabei gewesen. Warum hatte sie ihm das angetan? Er verstand es nicht, damals wie heute…

Liebe hatte Macht, oh ja, aber, wie es aussah, nur über ihn – was dann auf Dauer leider etwas einseitig war. Es war die schönste Zeit in seinem Leben gewesen, so sah er zumindest. Daß das jetzt alles vorbei war – eine herbe Tatsache, die ihm Schmerzen verursachte, die er nicht ansatzweise betäuben konnte. Der Schmerz der absoluten Leere war unerträglich. Er konnte nichts dagegen tun, und niemand konnte ihm helfen.

Er hatte mit den Wölfen der Großstadt geheult, den Mond angebrüllt, war zum Jäger der Nacht geworden – ihrem Geist konnte einfach nicht entfliehen. Schon hinter der nächsten Ecke wartete er, umzingelte ihn, trieb ihn; bis sich alles um ihn drehte. Er war geflohen – bis hierher. Nur um festzustellen, daß es sinnlos gewesen war. Er hatte eine Ahnung, wer da neben ihm stand und über all seine Fluchtversuche schallend lachte. Der Wahnsinn. Möglich.

„Es geht immer irgendwie weiter“, Echos aus längst vergangenen Tagen. Nur das Meer war noch. Kalt, naß, lebendig. Wasser, Luft, Erde… Das neuerliche Lachen hinter ihm kannte er nur zu gut, er hatte seinen Dämon gefunden; Zeit, sich ihm zu stellen.

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© Mirko Bednarič 1996-2004
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