Grau

Es war kalt an diesem Montagmorgen. Das lag aber nicht daran, daß heute ein grauer Montag war, denn der Sonntag hatte ähnlich motivierend ausgesehen, sondern wahrscheinlich mehr daran, daß sich das alles im November abspielte. Novembermontage sind ja im allgemeinen nie besonders farbenfroh, aber dieser hier schlug alles vorher dagewesene in Farblosigkeit um etliche Längen.

Stinkende, graue Nebelschwaden aus dem grauen Industrieviertel der Stadt, einem Überbleibsel der industriellen Revolution, verteilten sich dank des Windes mit nahezu mathematischer Genauigkeit bis in jeden Winkel der grauen Stadt. Trotz dieses wirklich miserablen Wetters hatte ein Teil der hiesigen Leute nichts besseres zu tun, als sich in ihren grauen Autos im Stau in den dreckiggrauen Straßen zu ihren Arbeitsplätzen in größtenteils grauen Gebäuden zu bewegen, soweit man da noch von Bewegung reden konnte. Der andere Teil der Leute fand es entschieden klüger, sich an den Bushaltestellen der stadteigenen Verkehrsbetriebe die Beine auf unbestimmbare Zeit in den Bauch zu stehen, da die Busse logischerweise ebenso schnell vorwärts kamen, wie alle anderen mehrrädrigen Verkehrsteilnehmer.

Unter dem Dach eines solchen heruntergekommenen Haltepunktes trafen zwei Menschen aufeinander: gelassen, ja fast stur, der eine und hektisch-nervös der andere. Der Erste stand neben dem seit schätzungsweise fünfzig Jahren ungültigen Fahrplan und verbreitete unter Zuhilfnahme seiner Zigarette kleine, graue, krebsspendende Wölkchen. Ein typischer Einwohner der grauen Stadt: ein mit Dreckspritzern übersähter, dennoch grauer Mantel, eine dunkelgraue Hose, von den Knien abwärts allerdings vom grauen Pfützenwasser durchtränkt, sowie Schuhe undefinierbarer Farbe und Machart, da sie gleichermaßen unter einer grauen Dreckschicht verborgen waren. Sein Nachbar in roter Hose, schwarzen Schuhen, schwarzem Hemd und violettem Mantel hatte sich offensichtlich das Ziel gestellt, einen neuen Rekord im Eintausendmal-von-einer-Ecke-des-Wartehäuschens-in-die-andere-in-weniger-als-fünf-Minuten-Lauf aufzustellen. Er lief also sehr gewissenhaft von der linken in die rechte Ecke, von der rechten in die linke ... bis ihm wohl etwas wesentliches einfiel, denn er blieb plötzlich stehen und ließ seinen Rekordversuch wieder in die Schublade für useless facts zurückplumpsen. Mit bedeutungsschwerer Miene sah er den Grauen an.

„Entschuldigen Sie, aber wissen Sie zufällig, wann der nächste Bus kommt?“

Statt einer Antwort sah der Graue unter umständlichen Rüttelbewegungen seiner rechten Hand, die wohl dem Zweck dienten, seinen grauen Mantelärmel von seinem Handgelenk herunterzuschütteln, auf ein zerkratztes Etwas, das wohl mal eine Uhr gewesen sein mochte, schüttelte den Kopf und zog weiter an seinem Glimmstengel.

Eine schier unendlich lange Reihe Autos zog am Bushäuschen vorbei, größtenteils graue Billigmodelle. Der Bunte drehte seinen Kopf in Richtung Straße, seine Miene verfinsterte sich. Er schob seinen linken Ärmel ein Stück zurück, ließ seinen Blick kurz über den Chronographen an seiner Hand wandern, und stellte fest, daß die dort angegebene Zeit irgendwie nicht mit dem Fahrplan in Einklang zu bringen war. Sein Blick verfinsterte sich weiter.

„Das gibts doch nicht! Der Bus ist doch schon seit einer halben Stunde überfällig!“ der Bunte war am Kochen. Der Graue musterte ihn mit einer hochgezogenen Braue und einem Blick, der zu fragen schien: „Wohl nicht von hier?“ und saugte weiter an seinem Sargnagel.

„Ja bin ich denn hier im Irrenhaus?!“ blaffte der Bunte in Richtung des Grauen. Dieser warf ihm einen Blick zu, der Granit zu Staub verarbeitet hätte, inhalierte die letzten Wölkchen aus seiner sterbenden Zigarette, ließ diese dann fallen und zertrat sie mit seinen schlammigen Schuhen.

Jetzt mußte irgendetwas passiert sein, möglicherweise ein paranormales Phänomen, denn jetzt verirrte sich tatsächlich so etwas wie ein Lächeln auf das Gesicht des Bunten. In weiter Ferne, am Ende der Straße, in der Reihe der Autos, hatten seine übermüdeten Augen ein Taxi erspäht. Den grauen Regen und den Schlamm leichtsinnigerweise außer acht lassend stürzte der Bunte an den Bordstein und winkte dem grauen Taxi zu. Das Taxi kam gefährlich schnell näher, der Fahrer sah den Bunten und trat aufs Gas ... der Bunte hatte sich vor der grauen Flutwelle aus Wasser, Schlamm, Öl und anderen guten Dingen nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen können: sie erwischte ihn in voller Länge. Er stand im Regen, mit Schlamm zugekleistert, unfähig sich auch nur zu bewegen; glaubte er im Taxi noch das sadistische Grinsen des Taxifahrers gesehen zu haben. Was er nicht gesehen hatte, war die Handbewegung, die der Graue hinter seinem Rücken in Richtung des Taxis gemacht hatte; diese hatte der Fahrer bestens erkannt, dann hatte er aufs Gas getreten.

„Na schön, jetzt ist mir nicht mehr nur kalt, jetzt bin ich auch noch naß bis auf die Knochen!“ mit unendlich langsamen Bewegungen, die verdeutlichten, wie sehr ihm die ganze Szene eben gefallen haben mußte, stellte sich der Bunte wieder unter das halbwegs schützende Dach der Haltestelle, „Scheißstadt!“ stieß er halblaut hervor. Der Graue hatte seine Augen starr auf den Boden gerichtet und schien den verbalen Ausbruch nicht registriert zu haben.

Jetzt zeigte sich, daß der Bunte wohl ein Optimist von ganzem Herzen war; in der Ferne zeigte sich wieder ein graues Taxi und er rannte wieder auf die Straße zu. Diesmal hielt das Taxi tatsächlich und der Bunte ließ sich unter demonstrativem Gestöhn in dasselbe fallen, rief sein Fahrziel in Richtung Fahrer. Als sich das Taxi in Bewegung setzte, blickte der Bunte noch einmal durch die grauen Scheiben des Gefährts und formte mit seinem Mund ein paar unhörbare und offenbar unanständige Worte. Der Graue sah nur kurz dem Taxi hinterher erwiderte sehr, sehr leise etwas ebenso unanständiges und bückte sich nach dem Portemonnaie, das der Bunte während seines halbherzigen Rekordversuches verloren hatte, nahm ein paar ungeheuer wertvolle Papierscheine heraus und ließ das nun wesentlich leichtere Behältnis betont arrogant zu Boden fallen, ging dann mit einem zufriedenen Lächeln zur Straße, den da zeigte sich tatsächlich der erwartete Bus.

Es hatte aufgehört zu regnen, die Wolken lichteten sich allmählich und es war tatsächlich etwas Sonne auszumachen. In der grauen Stadt gab es wohl ab und an recht farbenfrohe Novembermontage. Hier deutete sich einer davon an, schließlich kann sich ja auch die beste Wettervorhersage mal irren.

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