bedtime story

Die Lichter lösten sich aus dem Dunkel um ihn und kamen näher. Tadamtatata.

Die Menschen, denen er so oft begegnet war; es war nichts mehr zu spüren vom Dr. Faust in ihnen. Gar nichts. Stattdessen hoben diese tiefe Gräben aus. Um sich herum. Sie stapelten die Schädel ihrer Liebsten in ihren Kellern wie in einem Museum. Und die Brücke, auf der sie alle standen, brannte lichterloh. Wer rief die Feuerwehr? Tadamtatata.

Die Lichter verliehen den Gleisen vor ihm eine goldene Aura. Wie ein langes Band lagen sie hingestreckt vor ihm. Wie war er hierher gekommen? Tadamtatata.

Erst abends hatte er das Hotel erreicht – einen alten Schuppen mit pervers quietschenden Betten, einem mürrischen Empfangschef und einer Dusche pro Etage. Er hatte hier ja nur einen kurzen Auftrag zu erledigen, das ging also noch halbwegs in Ordnung. Von der gänzlich unbedeutenden Stadt, deren Namen man nur mit viel Glück oder Pech auf einem Marmeladenglas lesen konnte, hatte er in der Dämmerung nur die grausam zusammengewürfelte Architekturmischung aus den 30er bis 70er Jahren bemerkt. Er hatte kein großes Verlangen nach genauerer Inspizierung der Stadt verspürt. Morgen würde er sein Geschäft unter Dach und Fach bringen und wieder verschwunden sein, bevor er diese Stadt eingehender kennenlernen mußte. Durchgeschwitzt war er noch unter die Dusche gesprungen, hatte dann noch auf seinem Bett gesessen und überlegt. Tadamtatata.

Ihm fehlte da ein wichtiges Puzzlestück. Hier an der Eisenbahnstrecke – er hatte keine Ahnung, warum er hier war. Tadamtatata.

Die Landschaft war an ihm vorbeigeflogen. Unter seinem Walkman. In irgend einem Zweiter-Klasse-Abteil eines Zuges. Der Beat lief eher unterschwellig, aber die Bassline war brutal weit hochgesteuert. Diese Musik zog ihn tief hinab aus der Realität, bis er wieder bei sich selbst war. Immer neue irrsinnige Kaskaden aus Bass- und Synthiesnarestakkati bauten einen Dom um ihn, an dessen Kuppel ein Rasen aus purer Musik aufkeimte und auf ihn zu wuchs, bis er völlig darin eingebettet war. Warm war es hier und sehr angenehm. Die Luft schmeckte anders als noch vor fünf Minuten – oder waren es zehn gewesen? Tadamtatata.

Die Lok, deren helle Lichtkegel ihn wieder zurückgeholt hatten, war ihm mittlererweile so nahe gekommen, daß er die Gesichter der Lokführer hinter den spärlich erleuchteten Scheiben des Führerstandes kurz erkennen konnte, bevor sie vorbeigerast war. Schnelle Lichtflecken hell erstrahlender Abteilfenster schossen auf ihn zu und stürzten wieder von ihm weg. Noch lange, nachdem der Zug wieder in der Dunkelheit verschwunden war, blieben die blauen Flecken in seiner Wahrnehmung zurück. Sie führten einen wild-chaotisch-temperamentvollen Tanz vor ihm auf, formten exotische Blüten, gefährliche Schlangen, fraktale Kunstwerke und schließlich ihr Gesicht. Tadamtatata.

Ihr gegenüber hatte er gesessen. Ihre Augen, in denen er sich selbst nur zu gut sah. Am Fuße einer uralten Burg. Seine Maske hatte er zuhause gelassen, ihr gegenüber brauchte er sie nicht. Sie wäre ohnehin wirkungslos gewesen. Seine Maske mit dem Clownsgesicht, die ihn professionell wirken ließ, wenn er seine Tränen und seine Träume damit verdeckte. Und zwischen dem für Außenstehende dahinplätschernden Gespräch so viel Verständnis. All das neue für ihn, er war unsicher – war aus seiner Mauer herausgetreten, für die er lange Jahre Steine gesammelt hatte. Wahnsinn. Wieder er selbst zu sein. Endlich. Zu oft hatten die da draußen ihn verletzt. Und jetzt endlich eine warme Hand. Tadamtatata.

Erinnerungen an gute Zeiten. Alles war noch offen gewesen, bis er sich entscheiden mußte. Zwischen Wollen und Sollen. Und er entschied sich wieder einmal so, wie er sollte. In Hoffnung auf eine tiefe gute … Freundschaft. Er hatte sich schon so manches Mal für diese Entscheidung selbst eine langen wollen. Zu viel Angst vor zu viel Risiko, zu sehr ohne Garantie. Zu viel Leben. Und wieder allein unter diesem unermeßlich hohen Sternenhimmel in dieser heißen Nacht. Tadamtatata.

Eine Gute-Nacht-Geschichte? hatte er sich noch einmal vergewissern wollen. Zu unerwartet war das gekommen. Ihr Nicken duldete keinen Widerspruch – zumindest in seinen Augen. Wußte sie, wie schwer das war? Er wußte es ja selbst kaum. Tadamtatata.

Als hätte sich der Nebel in seinem Kopf gelichtet, erinnerte er sich. Er hatte die Bedtime-Story damals begonnen. Wie hatte sie doch gleich angefangen?

"Die Lichter lösten sich aus dem Dunkel um ihn und kamen näher. Tadamtatata.

Die Menschen, denen er so oft begegnet war; es war nichts mehr zu spüren vom Dr. Faust in ihnen. Gar nichts. Stattdessen hoben diese tiefe Gräben aus. Um sich herum. Sie stapelten die Schädel ihrer Liebsten in ihren Kellern wie in einem Museum. Und die Brücke, auf der sie alle standen, brannte lichterloh. Wer rief die Feuerwehr? Tadamtatata…"

Ihm wurde schwindlig. Was war hier passiert? Woher dieses Dejavu? Ein Schrei wollte sich aus ihm hinauskämpfen. Auf seinen Schultern lastete ein riesiges Gewicht, das ihn langsam aber unweigerlich zu Boden drückte. Tadamtatata. Woher kam dieses Geräusch? Klang wie ein Zug, der über Schwellen ratterte. Es wurde leiser klang jetzt eher wie … wie … eine Uhr! …tatatata… Wie seine Uhr! Als er die Augen geöffnet hatte, hob er seinen Kopf vorsichtig. Es empfahl sich wirklich nicht, auf seiner Armbanduhr einzuschlafen – sein Ohr tat höllisch weh. Auf dem Tisch in Griffnähe des Bettes lag die Ausbeute des gestrigen Abends: ein beschriebenes A4-Blatt, es begann folgendermaßen: „Die Lichter lösten sich aus dem Dunkel um ihn und kamen näher." Er wußte ja nun, wie es weiterging. Und da gab es jemanden, der wohl auf die vollständige Fassung wartete.

Tadamtatata.

Startseite

© Mirko Bednarič 1996-2004
www.bednaric.net | www.reiermeister.de