Nebel

Trotz des Nebels, der nun schon seit gut einer Woche über der Stadt lag, als wolle er sie auf ewig aus der Wahrnehmung streichen, der jeden Schritt vor die Tür in für auf das Augenlicht angewiesene Mitbürger gefährliches Unternehmen wandelte, trotz dieses Nebels war der dunkel gekleidete Mann auf dem Friedhof gut zu sehen.

Er war dünn. Und lang. Bewegte sich spitz durch die Reihen, stakste wie ein Storch im Tümpel von Stein zu Stein. Blieb von Zeit zu Zeit stehen. Nicken. Lächeln. Weitergehen. Ein besonderer Rhythmus lag darin.

Ein flüchtiger Beobachter hätte den Eindruck gewinnen können, daß der dünne Mann mit jeder Winboe zu kämpfen habe, daß er bei jedem Rascheln des Laubes Angst vor dem nächsten Hauch haben müsse. Näherkommend hätte dieser flüchtige Beobachter feststellen müssen, daß der Mann keinerlei Grund zum Zittern hatte. Sein Schritt war kräftig und seine Bodenhaftung mehr als ausgezeichnet. Überhaupt schien ihn jeder seiner Schritte weit im Erdreich zu verankern. Um ihn herum begannen die alten Friedhofsbäume zu stöhnen, als erinnerten sie sich der allzu vielen Tragödien, denen sie ja letzten Endes ihre Existenz verdankten. Wie ein Stachel in der Landschaft schien er Schmerzen zu verursachen. Unter seinen Sohlen schrie das Gras auf. Die einst so lebhaften Vögel hatten schon vor geraumer Zeit klagend das Weite gesucht. Sein Anblick hätte dem nicht mehr so flüchtigen Beobachter einen Eiszapfen ins Herz gejagt.

Vielleicht erinnerte er sich an den Tag, als er auf dem Bahnsteig stand. Und dieser besondere Gedanke in ihm keimte. Im Kopf dieses Ticken, im Herzen noch etwas Wut. In den gerade eingefahrenen Zug eingestiegen – Fensterplatz in Fahrtrichtung – fast leere Bahn. Das Knallen der Türen, der abfahrende Zug. Und das Geräusch des Zuges erinnerte ihn an so manche Musikstücke aus vergangener Zeit.

Oder an die Szenerie aus Unwirklichkeit und Bedrohlichkeit. Äste, die schon lange auf dem Boden faulten, schlangen gierig nach seinen Beinen; Bäume, die seinen tiefsten Alpträumen entsprungen sein mußten, festgekrallt im Sumpf, in dem er sich befand. Drückender Fäulnisgestank betäubte ihn, er stolperte wirr und der Besinnungslosigkeit nahe über diesen grotesken Friedhof aller menschlicher Hoffnung. Zu Boden stürzen. Aufstehen. Weitergehen. Die Angst hatte ihr Opfer gefunden und trieb nun ihr grausiges Spiel.

Gestern. Heute. Morgen. So weit, so nah, so leer. Er – das graue Genie – stand zwischen Licht und Dunkelheit; zwischen den anderen Grauen fiel er nicht auf. Hoffnung, daß trotz aller Kollisionen sein Lack nicht abplatzte und die Farben sichtbar wurden.

Wieder der Friedhof – wieder der Rhythmus aus Laufen, Stehenbleiben, Nicken, Lächeln, Weitergehen. Alle waren sie längst weg. Aber der Abstand hatte ihn relativieren lassen. Er hatte überlebt.

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© Mirko Bednarič 1996-2004
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