10Ebenenmelodie

K. war aus den Tälern auf die Ebene gestiegen, hatte sich seinen mühsamen Weg durch Bäche, Sträucher und taubes Geröll gebahnt. Wie blind wankte er vorwärts über die Ebene. Vergessen die Schlösser und Gerichtsgebäude. Vergessen auch die Beamten, die ihn fortgejagt hatten.

Die letzte Nacht hatte er im Freien zugebracht, der Wirt hatte ihn von der Herbergstür abgewiesen. Das Geld, welches K. ihm hatte reichen wollen, um sich den Einlaß doch noch zu erkaufen, hatte ihm dieser aus der Hand geschlagen. K. war sich sehr wohl bewußt, daß er nicht das geringste Recht hatte, irgendetwas zu fordern, sei es auch noch so niedrig einzuschätzen, noch daß er das Geld ins Spiel bringen durfte, das ihm zwar gehörte, dessen Gebrauch ihm jedoch nicht erlaubt war.

Beim Aufstieg hatte er das ihm wohlbekannte Lied des nackten Japaners gepfiffen. Den Text kannte K. nicht, aber die Melodie war ihm in Erinnerung geblieben. Er wußte nur noch, daß der Text eigentlich sehr traurig war – im Gegensatz zu der sehr beschwingten Melodie. Eine geradezu komischer Kontrast wie in den Büchern seines eigentlichen Erfinders – eine Komik, die nur wenige verstanden.

K. hatte erwartet, auf der Ebene endlich ein Ziel zu finden, nach dem er sich hätte wenden können. Um so enttäuschter setzte er nun Fuß vor Fuß, als er feststellen mußte, daß die Ebene kein Ende nahm. Von Zeit zu Zeit ertappte er sich bei dem Gedanken, daß er annahm, die Ebene hätte auch nie einen Anfang gehabt, sondern er würde in Wirklichkeit schon immer durch die Ebene laufen und hätte nur kurz geträumt. Geträumt von Aktendeckeln, die sich bis unter die Decke des Amtssaals türmten, wackelnd, bedrohlich. Nur geträumt von einem Paar leuchtender inmitten der vielen anderen, toten Augen. Nur kurz geträumt von wilder Jagd durch die engen Gäßchen der alten Stadt. Als hätte er nur kurz geträumt, hinauf auf die Ebene zu steigen.

K. schlief nachts wieder unter freiem Himmel, da kein Obdach weit und breit auszumachen war. Schlief lang und traumlos. Als er am Morgen frierend erwachte, mußte er mit Erschrecken feststellen, daß sich die Umgebung um ihn herum dramatisch verändert hatte. Hinter ihm breitete sich in gewohnter Unnahbarkeit die Ebene in den Horizont hinaus. Vor ihm jedoch schien über Nacht ein ungeheures Gebirge steil in den Himmel gewachsen zu sein. Ungläubig tastete er sich langsam in Richtung der neuen Felswand vor.

Etwa zwei Schritt vor der Wand blieb K. stehen, hielt inne, legte die Stirn in Falten, als müsse er jemanden überzeugen, daß er tatsächlich nachdenken müsse, über das, was er jetzt tun sollte. Mit einer fast behutsamen Bewegung seiner rechten Hand verscheuchte er ein Insekt, das sich sein Hosenbein hinaufarbeitete. K. amtete demonstrativ ein und machte zwei Schritte auf die Wand zu, streckte die Hand vorsichtig in Richtung Wand aus, ohne sie jedoch zu berühren.

So verharrte er einige Augenblicke. Dann riß er urplötzlich die Hand zurück und betrachtete sie angestrengt. Schließlich drehte er sich um und lief wieder in die Ebene hinaus.

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