Diesen Artikel habe ich 2003 auf www.reieRMeister.de veröffentlicht.

Kraftwerk haben mit den Tour de France Soundtracks nach 16 Jahren Pause endlich ein neues Album veröffentlicht und stürmen – für mich unerwartet – die Albumcharts

Autobahnraststätte

Die Rückkehr der Menschmaschine

Die Zeiten für Leute wie mich waren hart. Als Kraftwerkhörer aus Überzeugung mußte man in den letzten Jahren entweder Masochist oder unverbesserlicher Optimist sein. Denn die Herren aus Düsseldorf schwiegen beharrlich. Um noch an Material zu kommen, welches nicht unbedingt im CD-Regal des heimischen Elektro-Discounters lagerte, mußte man sich wohl oder übel aus offensichtlich rechtswidrigen Quellen bedienen.

Nur zur Info: Die ersten drei Alben von Kraftwerk werden Sie in keinem normalen Musikgeschäft finden. Es gibt sie schlicht und ergreifend nicht mehr. Selbst das oft gespielte Tour de France gab es lange Zeit nicht käuflich zu erwerben, weil es seinerzeit nur als Vinyl-Maxi erschien und erst 1999 auf CD veröffentlicht wurde.

So treiben dann die Umstände ein seltsames Spiel mit den armen Fans. Ich fuhr eines Tages auf dem Heimweg einem ziemlich abgetakelten Opel hinterher, auf dessen Heckscheibe der Schriftzug An- und Verkauf Platten und CDs prangte. Ich rief die dazugehörige Funknummer kurzerhand an. Meine Frage, ob er denn etwas von Kraftwerk habe, beantwortete der Herr am anderen Ende mit einem: Ja, aber leider nur die erste. So kaufte ich meine zweite Schallplatte von Kraftwerk.

Die erste Platte, die ich mir zugelegt hatte, war die Vinylmaxi Tour de France. Ich hatte sie an einem 23. Dezember auf einem Flohmarkt entdeckt und mir so ein Weihnachtsgeschenk gemacht. Mir und meinem Freund Torsten, dessen Verdienst oder Schuld es war, daß ich mich Kraftwerk im Speziellen und hochqualitativer Musik im Allgemeinen verschreiben habe. Seit jeher ist es bei uns beiden Tradition, daß wir Kraftwerk Alben immer geinsam anschaffen.

Es stimmte mich zunächst nachdenklich, daß die Düsseldorfer mit den Tour de France Soundtracks ein Thema aufgriffen, dessen Wurzeln 20 Jahre in die Vergangenheit reichen. Bereits kurz nach der Veröffentlichung des 1981er Albums Computerwelt kamen Gerüchte über ein neues Album auf. Technopop sollte es heißen. Lange Jahre war dies der Heilige Gral der Elektronischen Musik, denn dieses Album wurde nie veröffentlicht. Nicht unter diesem Namen. Der Veröffentlichungstermin wurde aus den Neuerscheinungslisten der Plattenläden gestrichen. Stattdessen wurde eine Maxi veröffentlicht – Tour de France. Das und jahrelanges Schweigen waren die Zutaten zum Mythos Technopop. Sagenumwobene Bootlegs geisterten durch die Szene, Verschwörungstheorien machten die Runde.

Erst der ehemalige Musikerkollege Wolfgang Flür lüftete in seinem Buch Kraftwerk – Ich war ein Roboter das Geheimnis. Es war so ziemlich alles schiefgegangen, was schiefgehen konnte: Die Arbeit am Album ging nur schleppend voran und man war nicht rechtzeitig fertig geworden. Dann hatte sich Ralf Hütter auch noch während eines Radunfalls sehr schwer verletzt. Die Veröffentlichung des Albums wurde auf 1986 verschoben. So wurde das Album unter dem Namen Electric Café veröffentlicht. Unter den Fans blieb es lange Zeit ein heiß diskutiertes Thema, was aus Technopop geworden war.

Im Jahr 1998 machte wieder einmal ein Gerücht über ein bevorstehendes Kraftwerkalbum die Runde. Dieses Gerücht erhielt zusätzlich Futter durch die auf ein paar Konzerten aufgeführten unbekannten Stücke. Dann machte ein zweites ihm den Garaus. Kraftwerk habe EMI Material für ein neues Album vorgestellt. EMI habe es als nicht veröffentlichungsfähig zurückgewiesen. Eine andere Version (nachzulesen in Konrad 2/98) besagt, daß Kraftwerk das Material selbst wieder zurückgezogen hätten. Was daran wahr ist, wird wohl nie jemand erfahren. Es sei denn, einer der Beteiligten bei EMI erzählt davon. Denn Ralf Hütter und Florian Schneider würden das wahrscheinlich nie tun. Warum auch.

Daß die Tour de France dann 1999 auf Maxi-CD veröffentlicht wurde, glich einem Fingerzeig Gottes an den Atheisten. Kaum hatte ich mich davon erholt, rollte die nächste Unfaßbarkeit auf mich zu. Die Expo 2000 kam mit viel Tamtam nach Deutschland – und Kraftwerk lieferten den Türgong. Der Sound war erstklassig, aber er war leer und ohne Inhalt. Die Maxi leistete erneut Gerüchten über ein bevorstehendes Album Aufschub. Aber Irrtum. Genausowenig war an den Gerüchten über einen Auftritt auf der Expo 2000 dran. Leider.

Soundtracks zum Geburtstag

Mit über 55 Minuten Länge ist es eines der längsten Kraftwerkalben. Und es klingt wie Kraftwerk im Jahr 2003. Und das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt hätte. Im Vorfeld war ja viel von dem ungeheuren Erwartungsdruck zu lesen, unter dem die Veröffentlichung stand. Und beneidet hat wohl Kraftwerk keiner in diesen Tagen.

Hütter hatte in einem Interview gegenüber dem Spiegel die große Bedeutung des Radsports und der Tour de France für ihn und Florian Schneider unterstrichen. Von dieser Bedeutung lebt auch das Album. Wie fast alle vorangegangenen Alben sind auch die Tour de France Soundtracks ein Konzeptalbum. Kraftwerk spannen in diesem Jubiläumsalbum anläßlich des einhundertsten Geburtstages der Tour de France den Bogen von der Tour über die Radsportler als biologische Kraftwerke, deren Verschmelzung mit ihren Rädern zu Menschmaschinen hin zur klassischen Tour-de-France-Version.

Musikalisch bewegen sich Kraftwerk ein wenig vor der Zeit. Wie immer. Aber der Vorsprung ist dünner geworden. Die lange Pause auf der Autobahnraststätte ist der Musik anzumerken. Da muß man sich dann schon mal Fragen gefallen lassen wie: Ist das von Der Dritte Raum? Um so mehr hat es mich freudig überrascht, daß Kraftwerk mit diesem Album Platz 1 in den deutschen Albumcharts erreicht haben. Ich wünsche mir für das nächste Kraftwerkalbum: mehr Kraftwerk und weniger Zeitgeist, ein schöneres und besser gestaltetes Cover…

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